Das Gomera-Prinzip bei der Gestaltung und Steuerung von Urlaubserlebnissen und Urlaubskommunikation
von Rainer Meyer
Jeder möchte gerne individuell Urlaub machen. Ohne Stress und lange Anreise kommt man am Urlaubsort an, findet dort ideale Bedingungen für Entspannung und Erlebnismöglichkeiten vor. Das Klima ist angenehm, Kommunikationsmöglichkeiten sind wie gewünscht leicht zu finden und man möchte am liebsten den Urlaub endlos verlängern. Allerdings zeigt die Urlaubspraxis, dass diese Wünsche meilenweit von der Realität entfernt sind. Woran das liegt, soll an anderer Stelle geklärt werden. Ich möchte nur auf eine andere Art von Urlaub verweisen, wie ich sie sehr häufig auf Gomera erlebt habe:
Das Gomera-Prinzip bei der Reiseplanung und Reisegestaltung kann allerdings bei fast jedem Urlaubs- und Freizeiterlebnis genutzt werden, um dieses hinsichtlich der oben geschilderten Erwartungen zu verbessern.
Wofür Gomera im Gomera-Prinzip steht
Der Verweis auf Gomera im Gomera-Prinzip ist allerdings hier nur als ein Verweis auf eine Art der Urlaubsgestaltung gemeint, die anders ist, als man sie durch Tourismus-Planung und Reise-Industrie gewöhnlich serviert bekommt. Freunde von Gomera wissen, dass der örtliche Valle Bote sehr gut das Gomera-Prinzip verdeutlichen kann. Dass diese selten gewordene Art von Individual-Tourismus auf Gomera besonders gut studiert werden kann, hängt mit den Besonderheiten in der Geografie und den historischen Entwicklungen auf den kanarischen Inseln zusammen. Es gibt sicher noch einige andere Orte auf der Welt, wo man entsprechenden Urlaubs-Prinzipien wie nach dem Gomera-Prinzip vorfinden kann: Gomera kann überall sein, doch paradoxerweise braucht man wegen der Nichtplanbarkeit emotionaler Erfolgserlebnisse eine besonders gute Planung und Gestaltung im Vorfeld eines Urlaubes, um Nichtplanbarkeit und Gelingen zusammenbringen zu können.
Das war jetzt wohl nicht nur paradox, sondern auch ziemlich abstrakt.
Ein zweiter Anlauf zur Erklärung des Gomera-Prinzips
Was vielen am Urlaub nervt, ist die Berechenbarkeit der Abläufe und die Verpflichtungen, die man sich selbst bereits lange vor dem Urlaubsbeginn auferlegt hat. Da kommt man am Flughafen an, wird vom Veranstalter in Empfang genommen und über diverse Stationen zu einer vordefinierten Apartment-Anlage gebracht, wo bereits alles vorformatiert ist: Festgelegt sind die Essenszeiten und die Essensmöglichkeiten und im Umfeld der Anlage ist alles vorhanden, was man für die Urlaubgestaltung braucht. Manchen gefällt das so gut, dass sie kaum mehr als ein paar hundert Meter zu Fuß von der Anlage wegkommen. Geht man mal etwas besichtigen, dann bucht man den Bus des Veranstalters, der einem nach genauem Zeitplan von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit bringt. Wer gerne wandert, der bucht eine entsprechende Wanderführung. Da kann man sich sicherlich nicht verlaufen und zur Mittagszeit sitzt man dann an den vorbestellten Tischen und wählt im Idealfall noch aus der knapp formulierten Speisekarte ein Essen aus.
Zwänge, Berechenbarkeit und Rituale prägen auch die Kommunikationssituationen des normalen Urlaubs. Man sitzt oft bereits beim Frühstück mit den gleichen Leuten am selben Tisch und kennt auch deren Vorlieben und Planungen. Von deren Planung ist es oft nur ein kleiner Schritt zum „verplant werden“.
Es lassen sich sicher noch viele weitere Details zu einem schönen Horror-Gemälde des Spießer-Tourismus verdichten, doch erstmal soll es genug sein. Wer einmal auf Gomera (oder auf einer anderen etwas entlegeneren Insel) war und seine Reise dorthin nicht als „Pauschali“ gebucht hat, der wird schon ahnen, wie das Gegenbild zum obigen Gemälde aussieht: Man bucht zu Hause nur den Flug und vielleicht einen Mietwagen und eine Unterkunft für die ersten paar Tage. Vor Ort sucht man sich dann die bessere Unterkunft, meist in der Nähe oder im Umfeld der „Einheimischen“, was insbesondere dann von Vorteil ist, wenn man deren Sprache verstehen oder sogar praktisch anwenden möchte.
Ausgehend von der selbst ausgesuchten Wohnung (mit Kühlschrank und Küche) hat man dann alle Freiheiten, den Ablauf des Tages und des Urlaubs selbst zu gestalten. Man muss dafür nur einen guten Supermercado (Bäcker, Bio-Markt oder Tante-Emma-Laden) finden und kann dann jeden Tag neu entscheiden, was man auf den Küchentisch legt oder am Herd zaubert, um den Ablauf der Ereignisse anders zu gestalten. Autonom legt man fest, was man tun möchte, lernt neue Leute kennen, ohne gleich verpflichtet zu sein, diese in den Status der Urlaubs-Bekanntschaft (mit diversen Verbindlichkeiten) zu setzen. Abends kann man dann neben der eigenen Küche auch aus dem Angebot der vielen Restaurants wählen. Sind die dann ziemlich voll, ist es auch kein Problem, sich an freie Plätze zu setzen und ganz zwanglos gemeinsam oder nacheinander zu speisen.
Das Gomera-Prinzip der Urlaubs- und Lebensgestaltung
Urlaub sollte meiner Meinung nach die richtige Mischung aus Planung und Flexibilität haben. Geplant wird nur das Nötigste (Anreise, Abreise, Orte für die Übernachtung). Nach dem erstmaligen Ankommen muss man dann sich um die Basisinformationen (öffentliche Verkehrsmittel, Mietmöglichkeiten für Autos, Roller, Fahrräder, Versorgung und Aktivitätenangebote) bemühen, um anschließend auf Basis des neuen Wissens jeden Tag den Urlaub neu zu gestalten. Schließlich sind das Wetter oder sonstige Bedingungen am Abend vor dem nächsten Tag oft noch nicht bekannt. Das Gomera-Prinzip kann also wie folgt formuliert werden: Soviel Planung wie nötig, soviel Flexibilität wie möglich. Kommt mir irgendwie bekannt vor und könnte auch als Lebensmotto verstanden werden.
Das Gomera-Prinzip am Beispiel des Busausflugs Wanderung zur Burg Eltz (Traumpfad Eltzer Burgpanorama)
Insbesondere, dass es keinen Chef gibt, dass nicht alles vorweg festgelegt ist, kann eine alternative Busreise interessant machen und das Gomera-Prinzip auch abseits der Insel in der sogenannten zivilisierten Welt wirksam machen.
- Planung der Reise und Festlegung der Rahmenbedingungen: Nur die Eckdaten sind festgelegt, dazwischen wird nur so viel geplant, wie unerlässlich ist.
- Sollten mehrere Leute an der Reise teilnehmen, dann sind die Verantwortlichkeiten vorweg festzulegen. Es ist dann davon auszugehen, dass Zusagen und Absprachen eingehalten werden; dass das nicht mir jedem geht, ist auch klar.
- An den Verantwortlichkeiten wird auch nichts verändert, es sei denn eine Katastrophe (unberechenbares Ereignis vom Typ Schwarzer Schwan) bahnt sich an oder ist eingetreten. Für diese Fälle gibt es aber auch außerhalb der Projekte des Gomera-Prinzips keine vorbestimmten Lösungen.
- Jeder beteiligt sich entsprechenden seinen Möglichkeiten. Einer hat eine Idee und andere steuern ihre Unterstützung bei, ohne sich dabei mit einer Leitung oder einem kollektiven Willen abzustimmen. Das geht natürlich nur sehr bedingt mit Abzockern und Nutzenmaximierern. Diese müssen frühzeitig aussortiert oder mit geeigneten Maßnahmen (Kontrolle und Sanktionen) bei der Stange gehalten werden. Jeder ist jederzeit verantwortlich für das Gelingen des Gesamtprojektes. Wer seinen Beitrag nicht leisten kann, braucht Unterstützung oder zieht sich freiwillig zurück.
- Das Gomera-Prinzip scheint zu Chaos zu führen, doch auch in vielen anderen gesellschaftlichen Situationen hat es sich bewährt, nicht von vornherein alle Eventualitäten durch Festlegungen, Verfahren oder Autoritätsstellen in den Griff bekommen zu wollen. Chaos ist eher dann zu befürchten, wenn alles im Detail festgelegt ist, aber in der Praxis sich nur geringe Abweichungen von den Vorgaben ergeben. Man denke nur an die geringen Pufferzeiten bei Umsteigeprozessen bei Bahnfahrten in Deutschland. Eine kleine Verspätung eines ICEs und schon ist die Planung von Tausenden von Reisenden gefährdet.
- Sind Entscheidungen notwendig und reicht die Zeit für demokratische Prozeduren nicht aus, dann entscheiden meist diejenigen, die informell eine hohe Kompetenz zugewiesen bekommen haben. Das ist dann genau so, wie es die Soziologen bei den Hawthorne-Experimenten feststellen konnten: Die informelle Organisation ist effizienter als eine formelle, wenn es um flexible Lösungen für kurzfristig auftretende Probleme gibt.
- Wenn mal etwas schiefgeht, dann sucht man keine Schuldigen, sondern akzeptiert die neue Situation so wie ist und versucht das Beste daraus zu machen. Denn Jammern und Gomera-Prinzip, dass passt wohl nicht zusammen.
Es gibt sicher noch viele weitere Aspekte, die man zum Gomera-Prinzip hinzusetzen könnte. Spannend ist auch die Frage, wo genau und wann man das Gomera-Prinzip effektiv einsetzen kann. Wohl weniger in einem Atomkraftwerk oder an dem Leitstand eines Verkehrsbetriebs. Aber durchaus bedeutend häufiger, als man es gegenwärtig in Wirtschaft und Gesellschaft, in Arbeit und Freizeit beobachten kann.