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Christoph Kucklick hat mit seinem Buchtitel zur granularen Gesellschaft (hier auf Amazon verlinkt) deutlich zu machen versucht, wie „Big Data“ Wirtschaft und Gesellschaft verändern kann. Im Anschluss an die Skizzierung der granularen Gesellschaft wird im ersten Kapitel der Trend der Differenz-Revolution genauer ausgeführt. Das Vorgehen von Kucklick ist hier (wie auch bei weiteren Kapiteln) stets sehr ähnlich. Ausgehend von mehr oder weniger spektakulären Einzel-Beispielen wird recht schnell zu sehr allgemeinen Schlüssen übergegangen.

Differenz-Revolution im Personalwesen

Um die Differenz-Revolution zu verdeutlichen, greift Kucklick ein erstes Beispiel auf: Vermessung von sozialen Interaktionsprozessen nach einem Computer-Modell des kommerziellen Unternehmens Sociometric Solutions. (Die Verlinkung geht hier zu einem journalistischen Beitrag, der dasselbe Beispiel wie Kucklick aufgreift, der aber zu deutlich kritischeren Ergebnissen kommt.) Diese neue Technik der Sozialforschung wird im Personalwesen genutzt, wenn Umstrukturierungen anstehen oder betriebliche Potentiale entwickelt werden sollen.

Statt herkömmlicher Techniken der Befragung und der Auswertung von vorhandenen Datenbeständen bekommen die Beschäftigen einen handygroßen Überwachungscomputer (Sociometer) an den Körper geheftet, der laufend ihre Verhaltensweisen (insbesondere das Kommunikationsverhalten) erfasst und an eine zentrale Computer-Auswertungseinheit übermittelt. Angeblich machen die Mitarbeiter bei dieser modernen Kombination aus Arbeits-Rationalisierung und Big Brother gerne mit, wie Kucklick sich vom Chef des Unternehmens Ben Waber erläutern lies, schließlich würden „raffinierte Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre“ verwendet.

Auch angesichts dieser naiven Rechtfertigung sollte man die weitere Schilderung der Ergebnisse des Sociometer-Beispiels mit Vorsicht genießen. Hauptproblem bei diesem Beispiel der Abbildung sozialer Prozesse in Computersysteme (wie auch bei vielen anderen Beispielen aus dem Big-Data-Umfeld) ist, dass es sich um Konzepte und Modelle von Privatunternehmen handelt, deren Funktionsweisen nicht transparent sein sollen und deren stetig zu erwarteten Erfolgsmeldungen nicht überprüft werden können.

Für bemerkenswert halte ich auch, dass Kucklick Einzelergebnisse formuliert, die im klaren Widerspruch zu seinen Globalaussagen stehen, wobei dies offenbar aber nicht von ihm bemerkt wird. Interessant können die Ergebnisse von Sociometer-Untersuchungen schließlich nur sein, wenn sie zu spezifischen Aussagen führen, die etwas über die Bedeutung von informellen Gruppen und Beziehungen aussagen.

  • Waber entdeckte auch eine wesentliche Stütze vieler Firmen, die bislang völlig übersehen worden war: Mitarbeiter nämlich, die zwar unscheinbar sind, aber die Produktivität ihrer Kollegen enorm steigern, offenbar weil sie besonders begabt sind, ihr Wissen weiterzugeben.
  • Derart granular erfasst, gleicht niemand mehr einem anderen. (Zitatende)

Die hier zitierten Aussagen von Kucklick liegen nur wenige Absätze auseinander. (Sofern in diesem Blogbeitrag nicht anders angegeben, stammen die Zitate aus dem oben mit Amazon-Link angesprochenen Buch: Christoph Kucklick, Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Ullstein Berlin 2014)

Das Vorgehen mittels Sociometer (oder ähnlicher „granularisierender“ Techniken), also die direkte Datenerfassung ohne Umweg über Befragungen oder ähnliche Techniken wird dann dem bisher üblichen Vorgehen der Meinungsumfrage gegenüber gestellt, wobei die traditionellen Verfahren schlecht aussehen. Denn diese Art der Forschung erzeuge erst das, was sie vermeintlich objektiv messen wollte. Ob diese Polemik generell gegenüber Meinungsforschung und empirischer Sozialforschung angemessen ist, sei dahingestellt, bemerkenswert scheint mir nur, dass Kucklick übersieht, dass auch die Sociometer von Sociometric Solutions – wie jede andere Modellierung zur Bestimmung von messbaren Daten – erst das erzeugen, was sie vermeintlich objektiv messen.

Auch der nächste polemische Vorwurf von Kucklick gegen die etablierten Methoden der Sozialwissenschaften ist wenig überzeugend: Bisherige sozialwissenschaftliche Methoden würden nur das erfassen, was die Leute sagen und dies sei bestimmt dadurch, was sozial erwünscht wäre. Auch diese Kritik ist in dieser Pauschalität falsch, weil es gerade bei guter Sozialforschung darauf ankommt, so zu fragen, dass man hinter den Schein des sozial Erwünschten oder des offiziell nach außen getragenen Selbstbildes blicken kann. Außerdem übersieht Kucklick, dass auch die Sociometer entsprechende Verzerrungen produzieren könnten: Bekommen die Mitarbeiter erst mal mit, dass vielfältige Kommunikation als vorteilhaftes Verhalten eingestuft wird, dann werden sie ihr Verhalten entsprechend diesem Wunschbild verändern, zumal es auch ganz gut zum sozial erwünschten Verhalten passt. Dass Sensoren ein objektiveres Bild ergeben als gut gemachte Befragungen, müsste also am Einzelfall konkret nachgewiesen werden.

Ausgehend vom Beispiel Sociometer kommt Kucklick dann zu sehr globalen Verallgemeinerungen:

Die Sensoren verzeichnen Bewegungen, Handlungen und das Netz von Interaktionen, das sich daraus ergibt. In diesem neuen, hochaufgelösten Bild der Wirklichkeit tritt das granulare Subjekt in Erscheinung. Für dieses ist der Begriff »Individuum« nicht mehr angemessen. Das Individuum ist der Mensch der Umfragen und der Meinungserhebungen, der statistischen Mittelwerte und Durchschnitte. Die digitalen Methoden hingegen erzeugen das, was ich als »Singularien« bezeichnen möchte. Das sind Menschen, von denen wir nicht nur behaupten, dass sie einzigartig und unverwechselbar sind, sondern die wir als solche auch messen können. (Zitatende)

Schaut man sich eine übliche Definition von Individuum an, dann wird schnell klar, dass dort keine Umfragen und Mittelwerte eine Rolle spielen. Mir ist nicht klar geworden, was denn Singularien von Individuen unterscheidet und wie es möglich sein soll, Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit zu messen. Denn Messwerte als Ergebnisse von Messungen machen nur Sinn, wenn sie auf etwas Allgemeines bezogen sind. Bei der Beschreibung des Beispiels war das schon deutlich geworden. Es gibt Mitarbeiter die eine „Stütze“ sind und es gibt Mitarbeiter, bei denen man das nicht feststellen kann.

Auch Kucklick scheint sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken zu fühlen, dass er hier eine Objektivität feiert, die es möglicherweise gar nicht gibt:

Zum einen werden wir mit scheinbar »objektiven« Messungen konfrontiert, die ihre Überzeugungskraft aus der Tatsache beziehen, dass sie für alle gleich sind und scheinbar frei von subjektiven Verfälschungen. Ob das tatsächlich der Fall ist, bleibt meist unklar, denn wer versteht schon die genaue Funktionsweise von Sensoren und Algorithmen. (Zitatende)

Wenn sich Kucklick hier ernst nehmen würde, dann müsste er sagen, dass alles, was er vorher abgeleitet hat, bloß „scheinbar“ ist, also erst noch zu prüfen wäre.

Kucklick macht hier eine der eher seltenen kritischen Aussagen, die durchaus auch auf viele andere typische Big-Data-Anwendungen bezogen werden könnten. Allerdings bleibt die Relevanz von Big-Data-Konzepten oft nicht nur deshalb unklar, weil man nicht die Funktionsweise der Algorithmen versteht. Vielmehr ist es so, dass die Funktionsweise allein schon deshalb intransparent bleibt, weil sie ein Geschäftsgeheimnis privater Unternehmen darstellt. Dass dies auch Kucklick bekannt ist, wird weiter hinten in seinem Buch durchaus erwähnt.

Kucklick lobt die neuen Möglichkeiten des Feedbacks, die die Sociometer leisten könnten. Wie das möglich sein soll, ohne dass der eingangs als hervorragend gelobter Datenschutz aufgebrochen wird, bleibt für mich unklar. Später im Buch wird allerdings der Datenschutz ohnehin als überholt klassifizieren.

Bemerkenswerter finde ich aber, dass er das Modell der Singularisierung komplett aufgibt, wenn er auf die globalen Ergebnisse der Sociometer zu sprechen kommt: „Die Maschinen haben den Idealzustand errechnet, an dem sich die Menschen messen lassen sollen.“ Diese Sicht auf Menschen ist zugleich so schlicht wie totalitär. Dazu passt es dann ganz gut, wenn aufbauend auf die Ergebnisse der Sociometer Methoden erläutert werden, wie man denn aus schlechten Teams gute machen könne. Hierfür seien nur wenige Änderungen nötig: Geschickte Positionierung des Wasserspenders, mehr Zeit und Platz zum Reden bei der Kaffeemaschine, längere Pausen für überlastete Call-Center-Agenten. Das Ziel sei stets, die Wahrscheinlichkeit für Zufallskommunikation zu verbessern.

Diese eher sympathischen Vorschläge werden kontrastiert mit einem Horrorbeispiel: Computer überwachen die Lächel-Frequenz von Spielbank-Angestellten und mahnen diese ab, wenn eine bestimmte Lächel-Quote unterschritten wird. Ob es da tröstlich ist, dass es auch die Chefs (auf mittlerer Ebene) treffen kann?

Differenz-Revolution in der Politik

Nun wendet sich Kucklick einem neuen Beispiel zu, das aus dem politischen Bereich kommt. Kucklick will erläutern, wie US-Präsident Obama seine Wiederwahl gewinnen konnte, obwohl viele Prognostiker ihm den Untergang vorausgesagt hatten. Obama habe sein Wahlvolk so weit granularisiert, dass faktisch jeder Einzelne, der potentiell für die Stimmabgabe relevant war, direkt im Sinne der Wiederwahl von Obama bearbeitet werden konnte. Bis in einzelne Gesprächssituationen hinein wären die Abläufe manipuliert worden.

Durch entsprechende Vorgehensweisen entstehe eine neue Asymmetrie zwischen Wählern und Gewählten. Letztere verfügen über so viel Wissen vom Einzelnen, dass die normalen Bürger keine Relevanz im Kommunikationsprozess entfalten könnten.

Allerdings ist es keinesfalls neu, dass Kommunikation dann asymmetrisch wird, wenn einer der Kommunikationsteilnehmer über mehr Informationen verfügt. Kucklick sieht damit das Prinzip der Gleichheit und damit die Demokratie, so wie wir sie kennen, in Gefahr. Dass er ausgerechnet auf Bismarcks Reform der Sozialversicherung abhebt, um das Prinzip der Gleichheit zu verdeutlichen, mag erstaunen, schließlich war Bismark im Bezug auf die Manipulation der Öffentlichkeit mindestens genauso geschickt wie Obama.

Widersprechen möchte ich der Position, dass demokratische Gleichheit nur bei einem Schleier des Nichtwissens möglich ist. Gleichheit der Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten kann nicht heißen, dass unterschiedliche Wissensbestände bei den Akteuren zu unterbinden ist

Differenz-Revolution Self Tracking

Ob es sich beim Self Tracking um eine vorübergehende Modewelle handelt oder ob diese Technik der persönlichen Körperdatenerfassung und -auswertung dauerhaft relevant bleibt, kann gegenwärtig noch nicht abgeschätzt werden. Christoph Kucklick hat aber die Einschätzung, dass sich hier ebenfalls ein globaler granularer Trend zeigt, der aus den Einzelnen Singuläre machen könnte. Nach dieser Idee komme es dem Nutzer von Self Tracking quasi darauf an, ein möglichst fein differenziertes Modell des eigenen Körpers zu bestimmen, das es für ihn gestatte, zu je spezifischen Handlungsmöglichkeiten zu kommen, um bestimmte Körpermerkmale (Gewicht, Muskeln, Blutwerte etc.) zu optimieren.

Ob das so einfach funktioniert, kann bezweifelt werden. Kucklick berichtet von einem Self Tracker, der herausgefunden haben will, dass er bei der Unterschreitung eines bestimmten Schwellenwerts für Körperfett mehr essen könnte, ohne zuzunehmen. Das klingt nicht nur unwahrscheinlich, das ist nichts anders als Aberglaube auf Basis von unzureichend erfassten Daten. Generell führt das unsystematische und unreflektierte Erfassen von großen Datenbeständen dazu, dass viele Zusammenhänge aufscheinen, die möglicherweise nur vorübergehende Klumpungen oder Zufallskorrelationen darstellen. Beachtet werden muss in diesem Zusammenhang auch, dass Menschen die Tendenz haben, nach Bestätigung für solche Ad-Hoc-Hypothesen zu suchen und nicht dazu neigen, die gefundenen Korrelationen als Hypothese zu nehmen, die erst noch kritisch zu prüfen wären. Wie viele Self Tracker glauben, dass sie gut abnehmen, wenn sie viel schwitzen? Dass das Ganze auch mit dem Verlust von Flüssigkeit zu tun haben könnte, dafür müsste man systematisch die Zusammenhänge recherchieren und da kommt man kaum um die Wissenschaft und den Durchschnitt herum.

Von der Differenz-Revolution zur Krise der Gleichheit

Dass Facebook sich den Scherz erlaubt, 57 Arten von Geschlecht in dem entsprechenden Formularfeld dem Nutzer anzubieten, nutzt Kucklick, um eine Krise der Gleichheit festzustellen. Es folgen recht schnell einige Behauptungen, die aus dem Umfeld der modernen Personalauswahl-Propaganda stammen könnten:

Der austauschbare Organisationsarbeiter der Industriegesellschaft, der Disziplin und Erwartbarkeit verinnerlicht hat, geht in Rente und macht Mitarbeitern Platz, die Kreativität und Eigenverantwortung kultivieren. (Zitatende)

Scheitern werde daher wieder als individuelle Schuld erfahren. Diese uralte Idee des Liberalismus wird nicht dadurch moderner, dass sie mit paradoxer Begrifflichkeit als „Individualismus des Singulären“ beschrieben wird. Dass der „Individualismus des Universellen“ erst hergestellt werden muss, war eine politische Forderung im Umfeld der Französischen Revolution, die eher als Aufgabe denn als Ergebnis zu verstehen ist. Daran hat sich durch Big Data nichts geändert, auch wenn es durch die scheinbare Genauigkeit der vielen Daten nicht einfacher wird, dieses Ziel zu verfolgen.

Dank Differenz-Revolution eine neue soziale Physik?

Gegen Ende des Abschnitts zur Differenz-Revolution werden vermeintliche oder tatsächliche Mängel der herkömmlichen empirischen Sozialforschung aufgegriffen, um zu zeigen, dass es inzwischen bessere Möglichkeiten für Soziologie geben könnte. Doch es war den Soziologen noch nie verboten, auf andere Methoden als Befragungen zurückzugreifen, um zu gesellschaftlich relevanten Aussagen zu kommen. So könnte man beispielsweise Daten zum Steueraufkommen nutzen, um Veränderungen im Schichtaufbau einer Gesellschaft zu bestimmen. Man müsste nur an die Daten herankommen und sicherstellen, dass diese repräsentativ sind. Das ist oft sehr schwierig, weil die staatlichen oder privaten Stellen, die über die Daten verfügen oder verfügen könnten, kein Interesse daran haben, dass ihre Daten für Aufklärungszwecke einer kritischen Sozialwissenschaft benutzt werden. Stattdessen wird Forschern oft nur exklusiven Zugang auf interne Daten gewährt, wenn diese sich darauf verpflichten, nicht gegen die Interessenlage ihrer Auftraggeber zu handeln.

Benötigt wird also keine neue soziale Physik, sondern Offenheit von Daten für wissenschaftliche Forschung, damit sich Forscher und interessierte Öffentlichkeit ein unvoreingenommenes Bild verschaffen können. Erst dann wird sich klären lassen, ob die herkömmlichen Vorstellungen von Klassen und Schichten noch angemessen sind:

Ob derlei Forschungen unsere bisherigen Begriffe – Klassen, Schichten, Systeme – tatsächlich obsolet werden lassen oder welche Kategorien ihren Platz einnehmen werden, steht noch in den Sternen. (Zitatende)

Dieses vorläufige Fazit steht tatsächlich im Kapitel zur sozialen Physik, wo eingangs lang und breit erklärt wurde, dass die „bisherigen Begriffe“ überholt wären.

Dieser Artikel ist Bestandteil einer Artikelserie zur „granularen Gesellschaft“

  1. Granularität oder das Ende der Gleichheit
  2. Differenz-Revolution: Vom Individuum zum Singularium
  3. Intelligenz-Revolution: Nutzen und Kosten der künstlichen Intelligenz
  4. Kontroll-Revolution: Wir werden vorhersagbar, weil wir uns vorhersagbar machen
  5. Fazit: Der neue Mensch der granularen Gesellschaft

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