Kleine Gewerkschaften stören die Abläufe in Wirtschaft und Gesellschaft, weil sie unberechenbar sind und vorgegebenen Konsens-Modellen widersprechen. Kleine Gewerkschaften sind aber auch sehr erfolgreich, wenn sie ihre Mitglieder zum gemeinsamen Handeln motivieren und lange Durststrecken durchhalten können. Das kann man in Deutschland nicht nur bei Angestellten mit hohem Sozialstatus und gutem Einkommen (z.B. Ärzte oder Flugpiloten) feststellen, auch die vergleichsweise kaum beachteten Lokführer haben das Potential, bessere Rahmenbedingungen und bessere Bezahlungen erreichen, als die gewerkschaftlichen Groß-Organisationen in ihren Bereichen. Jüngste Misserfolge der Großorganisation Verdi bei Erziehern und Postangestellten machen erneut deutlich, dass kleinere Organisationen tatsächlich mehr erreichen können. Doch das neue Tarifeinheitsgesetz soll den kleinen Gewerkschaften dies erschweren oder unmöglich machen. Hintergrund dieser aktuellen Tendenzen sind Begriffe aus der politikwissenschaftlichen und politischen Diskussion, die bis weit in die 1950er-Jahre zurückreichen. Um den aktuellen Konflikt um Tarifeinheit und Streikrecht besser einordnen zu können, muss man sich auch mit Begriffen wie Korporatismus, Sozialpartnerschaft oder „konzertierte Aktion“ beschäftigen.

Der Begriff Korporatismus ist sperrig, schwer aussprechbar und wird auch bei Studenten der Politikwissenschaft nicht gut bekannt sein. Der Grund dafür, dass Korporatismus im Rahmen der Politikwissenschaften in den späten 1970er-Jahren eine gewisse Resonanz fand, ist wohl der, dass er im Gegensatz zu den bekannteren Begriffen Sozialpartnerschaft oder „konzertierte Aktion“ nicht eindeutig propagandistisch oder wertend verwendet wird. Bei allen drei Begriffen geht es um das Verhältnis von Tarifvertragsparteien (Gewerkschaften und Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberverbänden), ihren wechselseitigen Einfluss und ihren gemeinsamen oder konfliktbetonten Einfluss auf Öffentlichkeit und Staat.

Die junge Bundesrepublik Deutschland war in den 1950er-Jahren geprägt durch Wirtschaftsaufschwung und Abgrenzung gegenüber dem real-sozialistischem Osten (Planwirtschaft und Mängelwirtschaft). Leute wie der Wirtschaftsminister formulierten ein neuartig wirkendes Modell des Kapitalismus. Ludwig Erhard (CDU), der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, hatte bereits während der Nazizeit Ideen entwickelt, die heute immer noch unter dem populären Begriff der sozialen Marktwirtschaft gefeiert werden, sogar von linken Vordenkerinnen wie Sarah Wagenknecht.

In der Welt der guten alten BRD wurden (nach dieser idealen Modellansicht) soziale Konflikte partnerschaftlich gelöst. Arbeitgeber machten sich Gedanken um das Wohl ihrer Mitarbeiter, Konflikte wurden auf kollegiale Art mit Betriebsräten und Gewerkschaften diskutiert und gelöst. In den Aufsichtsräten von großen Unternehmen gab es Arbeitnehmervertreter, paritätische Mitbestimmung prägte die Kohle- und Stahlindustrie.

Dieses heile Bild wird nur getrübt, wenn man sich die Realität der 1950er und 1960er-Jahre genauer ansieht. Das Gesetz zu den Betriebsräten wurde erst nach Streiks ermöglicht. Die Mitbestimmung in der Montanindustrie wurde erst umgesetzt, als Streiks angekündigt wurden. Betriebsräte konnten oft nicht gebildet werden, weil die Arbeitgeber Sanktionen ergriffen oder handelnde Interessenvertreter gemobbt wurden. Gewerkschaften wie die IG-Metall kamen erst zu relevanten Erfolgen, wenn sie zum Mittel des Erzwingungsstreiks griffen. Arbeitgeber nutzten die Aussperrung als Kampfmittel und hatten auch es bei den Gerichten relativ leicht, Streikverbote durchzusetzen. Schlichtungsverfahren waren an der Tagesordnung, womit erfolgreiche Ergebnisse das Resultat eines Zufallsprozesses werden konnte. Politisch dominierte stets die konservative CDU/CSU, die SPD blieb Daueropposition im Bundestag und setzte seit Godesberg 1959 auf Anpassung und Abschwächung sozialistischer Positionen.

Die ehemaligen Sozialisten um Herbert Wehner, Willy Brandt und Helmut Schmidt setzten konsequent auf Anpassung und warben auch Jahr für Jahr auf den Demonstrationen am 1. Mai für ihren sehr moderaten Reformkurs. Die Grundsatzerklärungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes setzten mehr und mehr auf Elemente des Godesberger Kurses.

Die SPD hoffte auf Regierungsbeteiligung im Rahmen einer Großen Koalition, die Gewerkschaften des DGB unterstützten diese Politik, weil sie darin eine Absicherung ihrer sozialen Konzepte sahen und auch mehr Spielraum für Tarifvertragspolitik gewinnen wollten. Dieser Kurs war teilweise sehr erfolgreich, doch bereits mit der Wirtschaftskrise 1966 und der parallel entstehenden Studentenbewegung (außerparlamentarische Opposition) wurden explizit linke Konzepte wieder stärker in der Öffentlichkeit gebracht.

Im Rückblick mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet der erfolgreiche Einstieg der SPD in die Regierung zu einer Verstärkung der außerparlamentarischen Opposition führen sollte. Doch in der Regierungsarbeit wurde deutlicher, welche konkreten Handlungsziele hinter wohlklingenden Reformversprechen stehen können. Reformen kamen zum Zuge (bessere Bildungsbedingungen über BAföG, neues Wahlrecht für jüngere Menschen) doch viele Ansätze (Hochschulreform) blieben in den Startlöchern stecken oder wurden nicht länger verfolgt. Bereits unter Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) wurde mit Berufsverboten gegen linke Lehrer oder Richter vorgegangen, die nachfolgende Kanzlerschaft unter Helmut Schmidt beendete konsequent jede Art von Reformpolitik, teilweise auch deshalb, weil während der bleiernen Jahren (1977ff. ) eine allgemeine Terroristen-Historie um sich griff.

Kaum von der Öffentlich wahrgenommen wurde, dass insbesondere in und außerhalb der Gewerkschaften es starke Widerstände gegen das herrschende Modell der Sozialpartnerschaft gab. Bei Betriebswahlen wurde heftig um die Sitze zwischen partnerschaftlich und konfliktorientieren Vertretern gerungen. Auseinandersetzungen über die richtige Gewerkschaftspolitik gab es insbesondere bei den Organisationen IG-Chemie und IG-Metall. Doch die oppositionellen Kräfte wurden weitgehend integriert, rigide Konzepte von Einheitsliste wurden überwunden, insbesondere der anhaltende wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik (im Vergleich mit vielen Nachbarländern im Osten wie im Westen) macht es verständlich, dass das Modell der Sozialpartnerschaft insgesamt eine sehr breite Akzeptanz hatte. Die SPD unter Helmut Schmidt konnte viele Wahlen mit dem Slogan „Modell Deutschland“ gewinnen, wo genau dieses Konzept als Basis unterstellt wurde.

Zwar wurde Schmidt und die SPD als Regierungspartei auswechselt, doch auch der Nachfolgekanzler Kohl und seine christlich-liberale Regierung zeigte kein Interesse daran, das Modell Deutschland und die Sozialpartnerschaft in Frage zu stellen. Bei den Sozialwissenschaftlern und Politologen setzte sich die Einschätzung durch, dass das Modell langfristig so stabil sein würde, das von einem neuen Gesellschaftsbegriff ausgegangen werden könnte. In diesem Zusammenhang wird auch gerne der Begriff Korporatismus und rheinischer Kapitalismus verwandt, um zu verdeutlichen, dass der „dritte Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus bereits gefunden ist. Es bedurfte erst das Ende des real-existierenden Sozialismus (1989) und mehrere Wirtschaftskrisen (zuletzt 2008), um das korporatistische Modell in Frage zu stellen. Wobei es auch heute noch viele Freunde des Modells gibt, die von ihm die Lösung der aktuellen wirtschaftlichen Probleme in Europa und dem Rest der Welt erwarten.

Ob das eine realistische Perspektive ist, soll hier nicht untersucht werden. Worauf ich nur hinweisen möchte ist, dass solche Gesellschaftsmodelle darauf hinauslaufen, Konflikte zu negieren und Minderheiten schaffen können, die sich durch Großorganisationen nicht mehr vertreten fühlen. Das war auch in den letzten Jahren verstärkt zu erkennen, beispielsweise bei den Lokführern. Es ist deshalb verkehrt, diesen kleinen Organisationen Egoismus vorzuwerfen. Tatsächlich bemühen sich hier die Interessenvertreter noch tatsächlich um Interessenvertretung, während die Großorganisationen dies faktisch aufgegeben haben und sich hinter der Gemeinwohlorientierung verschanzen. Das neue Gesetz zur Tarifeinheit ist also der Versuch, hier die kleinen Organisationen zugunsten der großen eingebundenen Organisationen zurückzudrängen. Im Falle der Lokführer scheint dieser Versuch vorerst gescheitert zu sein. Es wird sich aber erst in den nächsten Jahren zeigen können, ob das neue Tarifeinheitsgesetz die Mängel des Korporatismus kompensieren kann. Außerdem bestehen gute Aussichten, dass das Verfassungsgericht auch dieses Gesetz aufheben wird.

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